Warum es grundsätzlich schlauer ist, nicht mit der Polizei zu sprechen, habe ich bereits in einem anderen Beitrag erklärt. Jeder Beschuldigte (bzw. Angeschuldigte oder Angeklagte) hat das Recht zu Schweigen (§ 136 Abs. 1 Satz 2 StPO) und gilt bis zu seiner rechtskräftigen Verurteilung als unschuldig (Unschuldsvermutung).
Theoretisch kann man sich als Angeklagter im Gerichtssaal also entspannt zurücklehnen und die Hauptverhandlung schweigend bis zum Freispruch verfolgen. Theoretisch. In vielen Fällen ist die Einlassung (Aussage) eines Angeklagten vor Gericht nämlich unverzichtbar, um einen Freispruch oder einen anderen günstigen Verfahrensausgang erreichen zu können. Das Gericht entscheidet immer „nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung“ (§ 261 StPO) und die Einlassung des Angeklagten ist oft der einzige oder zumindest effizienteste Weg, um für ihn günstige Tatsachen ins Verfahren einzubringen.
Die Entscheidung, sich einzulassen, ist aber nicht ohne Risiko und sollte nie leichtfertig getroffen werden. Denn wenn man es falsch angeht und einem nicht geglaubt wird, hat man aus einer mittelschwierigen Ausgangsposition – immerhin hat’s für die Anklage gereicht – ein unrettbares Desaster gemacht.
Wahrheitspflicht für Angeklagte?
Dass man als Zeuge vor Gericht die Wahrheit sagen muss, weiß jedes Kind. Wer als Zeuge vor Gericht Falsches aussagt oder Relevantes verschweigt, kann zu einer Freiheitsstrafe verurteilt werden (§ 153 StGB). Für Angeklagte im deutschen Strafprozess gilt diese Wahrheitspflicht nicht. Die Einlassung eines Angeklagten muss vom Gericht natürlich gewürdigt werden, ist aber keines der sogenannten Strengbeweismittel im Strafprozess:
berichtet über eigene Wahrnehmungen
unterstützt das Gericht mit seinem Fachwissen
ist ein verlesbares Dokument, das eine Tatsache belegt
umfasst andere Beweismittel, die das Gericht hören, sehen oder fühlen kann
An die Aussage eines Angeklagten wird daher nicht derselbe „strenge“ Maßstab angelegt wie an die eines Zeugen. Dahinter steht der Gedanke, dass der Angeklagte in einem rechtsstaatlichen Verfahren nicht zu einem Beweismittel gegen sich selbst gemacht werden soll. Das ist wunderbar, hat aber auch seinen Preis.
Eine Angeklagte könnte vor Gericht lügen, dass sich die Balken biegen – wenn das Gericht ihr auf die Schliche kommt, hat sie sich mit der Falschaussage nicht strafbar gemacht und kann nicht bestraft werden. Jedenfalls nicht dafür. Getreu dem Motto „wer einmal lügt, dem glaubt man nicht“ versteht jeder, dass die falschen Angaben der Angeklagten ihre Glaubwürdigkeit in den Augen des Gerichts völlig zerstören. Und wenn sie auch die Wahrheit spricht – das Gericht wird allen Worten aus ihrem Mund mit maximaler Skepsis begegnen und insbesondere bei umstrittenen Tatsachenfragen automatisch das Gegenteil von dem glauben, was sie sagt. Auch wenn die lügende Angeklagte also keine Anzeige wegen Falschaussage zu befürchten hat, ist der Schaden für sie immens.
Das Misstrauen des Gerichts
Da bestreitende Beschuldigte und phantasiebegabte Angeklagte alles andere als selten sind, besteht auf Seiten der Justiz ein spürbares Grund-Misstrauen gegenüber deren Aussagen. Während Bedenken angesichts unsicherer oder unsinniger Zeugenaussagen häufig unter Verweis auf deren Wahrheitspflicht weggewischt werden („Aber der Zeuge steht doch unter Wahrheitspflicht, warum sollte der uns hier Unfug auftischen?“), muss die Aussage eines Angeklagten absolut makellos sein, um ohne das fehlende Gütesiegel Wahrheitspflicht zu überzeugen.
Es gibt einige klassische Problemkreise im Strafverfahren, in denen sich die latente Unwahrvermutung der Justiz gegenüber der Einlassung des Angeklagten zeigt und in denen sie eine besondere Herausforderung für den Strafverteidiger darstellt.
Das Teilschweigen
Wenn ein Angeklagter hinsichtlich eines Tatvorwurfs schweigt, darf das nicht zu seinem Nachteil gewertet werden. Auch ein aussagender Angeklagter hat sein Schweigerecht noch und kann sich jederzeit dazu entscheiden, keine weiteren Angaben mehr zu machen oder nur manche Fragen zu beantworten, andere aber nicht. Das Gericht muss diese Rosinenpickerei zwar hinnehmen, darf daraus allerdings seine eigenen Schlüsse ziehen und dieses Teilschweigen auch zu Lasten des Angeklagten werten. Um es mit den Worten des Bundesgerichtshofs (BGH 1 StR 125/00) zu sagen:
Durch eine Teileinlassung macht sich der Angeklagte freiwillig zum Beweismittel. Sein teilweises Schweigen bildet dann einen negativen Bestandteil seiner Aussage, die in ihrer Gesamtheit der freien richterlichen Beweiswürdigung unterliegt.
(BGH 1 StR 125/00)
Das Gericht darf also den „negativen Bestandteil“, die Lücken in den Angaben des Angeklagten, mit unvorteilhaften Annahmen über ihn ausfüllen. Im Klartext: die Unschuldsvermutung gilt beim Teilschweigen nicht.
Die Verteidigung muss sich also bei der Entscheidung zur Aussage absolut im Klaren darüber sein, dass bei der Einlassung des Angeklagten entweder völlige Offenheit herrschen sollte oder dass die Angaben des Angeklagten so wichtig und nicht durch andere Beweismittel ersetzbar sind, dass man die Nachteile des Teilschweigens im Einzelfall in Kauf nehmen muss. Ansonsten lässt eine bruchstückhafte Einlassung („Was passiert ist, will ich nicht sagen, aber es war auf jeden Fall Notwehr!“) den Angeklagten in den Augen des Gerichts meist schlechter dastehen als ein komplettes Schweigen.
Der Geständniswiderruf
Obwohl kein Beschuldigter mit der Polizei sprechen muss, tun es tatsächlich viele. Manche fühlen sich unschuldig und wollen auch die Beamten davon überzeugen; andere wissen genau, dass sie es nicht sind, halten sich aber für schlauer als die Polizei. Wie dem auch sei – gelegentlich wünschen sich Mandanten, sie könnten ihre Worte ungeschehen machen und ihr „Geständnis widerrufen“. Vor allem diejenigen, die sich um Kopf und Kragen geredet haben, sind dann regelmäßig schockiert wenn sie erfahren, dass der Begriff Geständniswiderruf viel weniger hält als er verspricht.
Die Einlassung eines Beschuldigten ist keine Willenserklärung, die man einfach rückgängig machen kann als ob man von einem Vertrag zurücktritt. Ein Beschuldigter kann seine Aussage nicht einfach „zurückziehen“. Anders ist das bei Zeugen, die zB ein Zeugnisverweigerungsrecht als Angehörige haben (§ 52 StPO) und dieses vor Gericht erst ausüben: ihre Aussagen bei der Polizei dürfen dann nicht verwertet werden (§ 252 StPO), sie können sie damit im Prinzip tatsächlich zurückziehen. Ein Beweisverwertungsverbot für die Aussagen eines Beschuldigten kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn sich die Polizei verbotener Vernehmungsmethoden wie Täuschung oder Drohung bedient hat (§ 136a StPO). Das muss man aber erst einmal darlegen können.
Die Mitteilung eines Beschuldigten, er wolle seine frühere Aussage widerrufen, ist grundsätzlich nichts anderes als eine neue Einlassung. Auch sie unterliegt der freien Beweiswürdigung des Gerichts. Es kommt also letztlich darauf an, welche Darstellung das Gericht dem Angeklagten glaubt. Abgesehen von der grundsätzlichen Skepsis gegenüber allen Angeklagten kommt in solchen Fällen noch dazu, dass ein Angeklagter, der zwei völlig unterschiedliche Einlassungen (Geständnis vs. Geständniswiderruf) vorgetragen hat, die Justiz dabei ja schon mindestens einmal belogen hat. Das fördert seine Glaubwürdigkeit nicht.
Die Konstellation Geständnis + Geständniswiderruf kommt in der Praxis gelegentlich vor und hat manchmal auch ganz nachvollziehbare Gründe (zB, dass der Angeklagte vom eigentlichen Täter unter Druck gesetzt wurde die Schuld auf sich zu nehmen, sich aber mittlerweile von der Person lösen konnte). Als Strafverteidiger muss man sich aber bewusst sein, dass man in solchen Fällen ganz besonders gegen die Unwahrvermutung ankämpfen und die „finale Version“, an der der Angeklagte festhält, mit möglichst vielen objektiven Beweismitteln stützen muss, um den Rückstand in Sachen Glaubwürdigkeit aufzuholen. Dass der Angeklagte sein Geständnis pauschal widerruft, ansonsten schweigt und das Strafverfahren in dem Glauben, das Geständnis wäre „weg“, einfach über sich ergehen lässt, ist keine wirkungsvolle Strategie.
Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen
Gerade in Sexualstrafsachen, zB wegen des Vorwurfs der Vergewaltigung oder des sexuellen Missbrauchs von Kindern, gibt es häufig keine objektiven Beweismittel wie Fotos, Videos, DNA und dergleichen, sondern nur die belastende Aussage der mutmaßlich geschädigten Person. Es ist zwar grundsätzlich zulässig, einen Angeklagten nur anhand der Angaben eines einzigen Zeugen zu verurteilen. In so einem Fall muss die Aussage des Belastungszeugen aber eine ganze Reihe von Qualitätskriterien erfüllen, sodass ihre Erlebnisbasiertheit zur vollen Überzeugung des Gerichts feststeht (BGH 1 StR 618/98).
Auch wenn der Großteil der Verteidigungsarbeit in solchen Fällen in der Auseinandersetzung mit der belastenden Aussage liegt, ist die Frage, ob sich der oder die Angeklagte zur Sache einlassen soll, immer eine Überlegung wert. Gerade wenn es um sexuelle Situationen zwischen zwei Erwachsenen geht, bei denen nicht der Sexualkontakt an sich, sondern die Einvernehmlichkeit (oder eben die Erkennbarkeit des Willens im Sinne von § 177 StGB) strittig ist, ist häufig erst die Einlassung des Angeklagten der Schlüssel zum Freispruch.
Ob die Einlassung wirklich erforderlich ist, muss aber in jedem Einzelfall anhand der konkreten Beweislage genau geprüft werden. Gerade in Aussage-gegen-Aussage-
Meiner Erfahrung nach ist die Beweisarmut in Aussage-gegen-Aussage-Fällen nämlich ein zweischneidiges Schwert: es ist zwar richtig, dass Gerichte in diesen Fällen besonders kritisch mit Belastungszeugen umgehen und die Unschuldsvermutung hochhalten. Wenn sich der Angeklagte aber aus der Deckung des Schweigens herauswagt und der ebenso kritischen Prüfung des Gerichts nicht standhält – indem er ausweicht, sich widerspricht, sich wieder verschließt (Teilschweigen) oder beim lügen ertappen lässt – hat er völlig verloren. Dann hat sich der Angeklagte, im Sinne des Bundesgerichtshofs, „freiwillig zum Beweismittel“ gemacht und dem Gericht die Entscheidung, ihn zu verurteilen, erheblich erleichtert.
Fazit
Es ist kompliziert.