Sicht aus dem Cockpit eines LKW

Fahrlässigkeit – Aus Versehen hinter Gittern

Fahrlässigkeit

– Das Strafrecht dient bekanntlich der Sanktionierung sozial unerwünschten Verhaltens. Sozial unerwünscht ist vor allem solches Verhalten, das von vornherein darauf abzielt, bedeutende Rechtsgüter wie etwa das Leben, die körperliche Unversehrtheit oder das Eigentum Anderer zu schädigen. Daher bestimmt § 15 StGB, dass die Straftatbestände des StGB grundsätzlich als Vorsatzdelikte zu lesen sind:

§ 15 Vorsätzliches und fahrlässiges Handeln
Strafbar ist nur vorsätzliches Handeln, wenn nicht das Gesetz fahrlässiges Handeln ausdrücklich mit Strafe bedroht.

In ausgesuchten Fällen soll also auch fahrlässiges Verhalten strafrechtlich verfolgt werden – und zwar dann, wenn besonders schützenswerte Rechtsgüter wie das Leben oder die körperliche Unversehrtheit geschädigt wurden. So ist etwa fahrlässige Tötung in § 222 StGB normiert:

§ 222 Fahrlässige Tötung
Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

Wie genau der Begriff Fahrlässigkeit zu definieren ist, lässt das StGB selbst offen. In Anlehnung an § 276 Abs. 2 BGB versteht man darunter das Außerachtlassen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt, kurz: eine Sorgfaltspflichtverletzung. Wer also eine Sorgfaltspflicht verletzt und dadurch den Tod eines Anderen verursacht, beispielsweise indem er durch grobe Missachtung der Regeln des Straßenverkehrs einen tödlichen Verkehrsunfall verursacht, macht sich wegen fahrlässiger Tötung strafbar.

Das Problem der Zurechenbarkeit

Die juristisch spannendste Stelle bei solchen Fahrlässigkeitsdelikten verbirgt sich hinter dem unscheinbaren Wort dadurch. Es bedeutet erst einmal nicht mehr, als dass zwischen der Tathandlung, also der Sorgfaltspflichtverletzung, und dem Taterfolg – hier: dem Tod – ein Kausalzusammenhang bestehen muss. Kausalität allein reicht allerdings nicht, um strafrechtliche Verantwortlichkeit zu begründen, denn kausal (ursächlich) für den ganzen konkreten Schaden können unzählige einzelne Aspekte des Sachverhalts sein.

Man muss sich also auch die Frage stellen, ob der mutmaßliche Täter mit seiner ganz konkreten Sorgfaltspflichtverletzung genau das rechtlich relevante Risiko geschaffen hat, dass sich im Taterfolg verwirklicht hat. Nur dann wäre ihm der Taterfolg objektiv zurechenbar, und nur dann wäre er strafrechtlich verantwortlich. Wenn sich nämlich herausstellt, dass der Schaden auch dann eingetreten wäre, wenn die Person sich pflichtgemäß verhalten (also keine Sorgfaltspflicht verletzt) hätte, handelt es sich bei dem Schaden vielmehr um ein Unglück oder einen Unfall als um eine Konsequenz ihres Fehlverhaltens.

Der Lastwagen-Radfahrer-Fall

Wie wichtig diese haargenaue Unterscheidung ist verdeutlicht ein berühmt gewordener Fall aus der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 02.10.1952 – 3 StR 389/52, BGHSt 11,1):

Ein LKW nähert sich von hinten einem Radfahrer, der in der selben Richtung unterwegs ist. Der LKW-Fahrer überholt den Radler mit sehr geringem Seitenabstand, wobei dieser ins Schlingern gerät und stürzt.

Der Radfahrer gerät unter den LKW und verstirbt noch am Unfallort. Der LKW-Fahrer wird der fahrlässigen Tötung beschuldigt,

Fahrrad liegt mitten auf der Straße

da sein Sorgfaltspflichtverstoß – die Nichteinhaltung des seitlichen Abstands – den Tod des Radfahrers verursacht haben soll. Im Laufe des Verfahrens stellt sich jedoch heraus, dass der Radfahrer volltrunken war und beim Radfahren erheblich geschwankt haben muss. Letztendlich lässt sich nicht ausschließen, ob er nicht auch bei Einhaltung des erforderlichen Seitenabstands von selbst unter den LKW geraten wäre.

Pflichtwidrigkeitszusammenhang vs. Risikoerhöhung

Fraglich ist hier, ob der Tod des Radfahrers dem Abstandsverstoß des LKW-Fahrers objektiv zurechenbar ist, also ob das Fehlverhalten des einen genau das rechtlich relevante Risiko gesetzt hat, dass sich im Tod des anderen verwirklicht hat. Stellt man nach der sogenannten Risikoerhöhungslehre darauf ab, dass der LKW-Fahrer mit seinem Fehlverhalten jedenfalls das Risiko für den Tod des Radfahrers erheblich erhöht hat, muss man die strafrechtliche Verantwortlichkeit des LKW-Fahrers bejahen – und diesen wegen fahrlässiger Tötung verurteilen.

Der Bundesgerichtshof ist jedoch dem Grundsatz in dubio pro reo (im Zweifel für den Angeklagten) gefolgt und hat klargestellt, dass eine Verurteilung nur bei einem Pflichtwidrigkeitszusammenhang in Betracht kommt. Das heißt, dass zwischen der Pflichtwidrigkeit (dem Sorgfaltspflichtverstoß) und dem Taterfolg ein möglichst enger Zusammenhang bestehen muss. Und konkrete Tatsachen, die auf eine andere Schadensursache wie etwa die Volltrunkenheit des Radfahrers hindeuten, lassen am Bestehen dieses Pflichtwidrigkeitszusammenhang jedenfalls so starke Zweifel aufkommen, dass man auf so eine unsichere Tatsachengrundlage keine Verurteilung stützen kann.

Der Bundesgerichtshof hat die Verurteilung des LKW-Fahrers wegen fahrlässiger Tötung daher aufgehoben.

Weitere Fallkonstellationen

Die gleiche Problematik findet sich nicht nur in Straßenverkehrsdelikten wieder, sondern tritt in anderem Gewand in ganz unterschiedlichen Praxisbereichen auf.

Unter anderem im Medizinstrafrecht finden sich anschauliche Beispiele für das Fehlen des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs: man stelle sich etwa vor, dass ein Arzt es versäumt, bei einer bestimmten Diagnose eine absolut übliche und als mehrheitlich erfolgreich bekannte Behandlung zu verschreiben. Wenn der Patient daraufhin an seiner Erkrankung verstirbt, kann man sich durchaus die Frage stellen, ob sich der Arzt wegen fahrlässiger Tötung strafbar gemacht hat. Dies wäre jedoch nur dann der Fall, wenn man nachweisen könnte, dass der Patient bei pflichtgemäßer Behandlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit noch länger gelebt hätte. Falls allerdings auch x % aller Patienten trotz ordentlicher Behandlung versterben, bestünde möglicherweise eben kein enger Pflichtwidrigkeitszusammenhang. In so einem Fall müsste man den Arzt in dubio pro reo freisprechen.

Fehldiagnose beim Arzt - Liebscher Strafrecht

Fazit

Nicht alles, was also auf den ersten Blick nach Fahrlässigkeitsstraftat aussieht, ist am Ende auch strafbar. Die rechtliche Bewertung hängt in der Praxis sehr eng von den festgestellten Tatsachen ab, sodass es kaum verwunderlich ist, dass in solchen Fällen vor Gericht um jedes Detail gerungen wird.