Juristische Heimatkunde
– Auch wenn einem der bürokratische Aspekt der Juristerei manchmal etwas banal vorkommen kann, fördert ein Blick ins Unterholz des Blätterwalds Faszinierendes zutage.
Was da die Arbeitszimmer der Richter bis zur Decke füllt und auf den Rollwagen der Justizwachtmeister munter die Korridore hoch und runter fährt, sind zunächst mal Akten, Akten, Akten. Dicke Akten, dünne Akten; neue Akten und alte, in jeweils branchenüblicher Farbe. Sie sind vor allem: viele. Inmitten dieser Unmengen gibt es dennoch einige Unterarten, die hervorstechen:
Das Gürteltier
Aus einer ganz gewöhnlichen Akte kann bei guter Pflege recht schnell ein stattliches Exemplar werden, dessen wachsende Leibesfülle dann mit Gummiringen ansteigender Stärke gebändigt werden muss. Besonders prachtvollen Exemplaren wird liebevoll ein Gurt um die Hüften gezurrt; sie werden ehrfürchtig als Gürteltiere bezeichnet.
Das Gürteltier ist gesellig; es schließt sich nicht selten mit Artgenossen zu größeren Herden zusammen. Anzutreffen ist es vor allem in sogenannten Umfangsverfahren – eine Bezeichnung, die nur Uneingeweihte auf den zeitlichen Umfang des Verfahrens beziehen. Aufgrund seiner Behäbigkeit versucht das Gürteltier, Reisen um jeden Preis zu vermeiden (“… wird um Vorlage einer Vollmacht ersucht” …, “Ermittlungen noch nicht abgeschlossen, …”, “derzeit unabkömmlich …”).
Der Vielfraß
Eine erst kürzlich entdeckte Subspezies zeichnet sich durch besonders rasantes Wachstum aus. Sie gedeiht freilich nur in ganz besonderen Biotopen und durch unnachgiebige Fürsorge: werden irgendwo die Papierberge der Justiz zum ersten Mal vom Licht der Zukunft beschienen, führt das häufig zu der heftigen Gegenreaktion des Ausdruckens von digitalen Signaturen, was pro Schriftsatz schon mal mehrere Seiten mit unlesbarem Code bedeuten kann.
Die Wanderratte
Andere Papiertiger sind da deutlich agiler und entwickeln quasi aus dem Nichts eine Reisetätigkeit. So ist erst neulich eine Akte, in die ich Einsicht beantragt hatte, bei einer am Verfahren völlig unbeteiligten Kollegin und Namensvetterin gelandet. Anders als durch Reiselust kann ich mir das nicht erklären, da meine Kontaktdaten sich schließlich auf dem Akteneinsichtsgesuch befanden.
An dieser Stelle nochmals vielen Dank an Kollegin Liebscher, die den flinken kleinen Freund wieder zurück in die richtige Umlaufbahn geschubst hat…
Die Verschollene
… Hoffen wir, dass er eines Tages tatsächlich hier ankommt und nicht, wie so viele andere, irgendwo auf der Strecke bleibt.
Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Akte wegkommt und zwischen Absender und Empfänger ein Streit darüber entbrennt, wer dafür die Verantwortung trägt. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt: es ist auch schon vorgekommen, dass eine Akte nach monatelangem erholsamen Schlaf in einer Poststelle auf wundersame Weise wieder aufgetaucht ist, verständnisvoll dokumentiert durch einen zweiten Eingangsstempel unter dem ersten.
Die Untote
Dann gibt es noch eine Gruppe, die vor allem durch ihre Unauffälligkeit auffällt. Da wurde seit Monaten oder gar Jahren überhaupt nicht mehr ermittelt, beantragt, Stellung genommen. Man würde sich wohl denken, dass das Verfahren mittlerweile eingestellt ist. Wenn man überhaupt daran denken würde.
Statt Sterbehilfe zu leisten lässt der zuständige Dezernent das Exemplar lieber weiter vor sich hin siechen. Vielleicht findet sich ja in den nächsten Jahren noch ein Straftatbestand, unter den sich das Ermittlungsergebnis subsumieren lässt.
In der Regel geht von Untoten allerdings trotz ihres zombiehaften Charakters keine Gefahr aus: wenn sich in ihnen auch nur halbwegs Ausreichendes für eine Anklageschrift finden würde, wäre diese schon vor Jahren verfasst worden.
Das Sonderheft
Das Sonderheft weiß seit jeher, was in der Anwaltschaft erst seit ein paar Jahren als bahnbrechende Weisheit beschworen wird: Spezialisierung ist Trumpf.
Das Sonderheft – ausgewachsene Alttiere werden als Sonderband bezeichnet – gibt sich mit dem schnöden Verfahrensalltag mit seinen Sachstandsberichten und Anträgen nicht ab, sondern versammelt stattdessen nur Informationen zu einem Spezialproblem. Es enthält zum Beispiel ein umfangreiches Gutachten, eine Ansammlung aller für ein Strafverfahren ausgewerteten Chats und Telefonate oder eine auszuwertende Akte aus einem vorangegangenen Verfahren.
Trotz einer gewissen Außenseiterstellung ist das Sonderheft sehr gesellig und teilt ohne Murren das Schicksal seiner Verfahrenskollegen.